Liebe Geschwister,
standst du schon mal am Abgrund? Damit meine ich nicht den schönen Abgrund aus dem letzten Urlaub in den Bergen, von dem aus man eine wunderbare Aussicht und die Natur genießen konnte. Ich meine die Abgründe, die sich mitunter im Leben auftun können, zum Beispiel beruflich, finanziell, familiär oder seelisch. Das können Situationen sein, in die man durch eigene oder fremde Schuld geraten ist. Man hat das Gefühl, das man den Boden unter den Füßen verliert, wenn sich nicht bald etwas ändert, Hilfe kommt oder die Situation sich auflöst.
Ich mag keine Abgründe, wer tut das schon? Nicht nur die im übertragenden Sinn, ich mag auch nicht die richtigen Abgründe. Im Sommerurlaub waren wir in der Stadt Sonderburg in einem Hochhaus, in dem eine ganze Etage als Aussichtsplattform zugänglich ist. Wir waren schon öfters dort und die Aussicht ist wunderbar. Man sieht die Boote im Als Sund und kann über die Flensburger Förde hinüber bis nach Deutschland schauen. Als ich die ersten Male dort oben war, habe ich mich immer nur bis zu einem Abstand von mehreren Metern an die Glasscheiben gewagt. Zu groß war meine Höhenangst, dass ich die vierzig bis fünfzig Meter hinunterfallen konnte. Eigentlich total unsinnig, überall ist Glas, das sich nicht mal öffnen lässt. Wie sollte man da herunterfallen? Und jeden Tag kommen etliche Menschen dort hin und noch nie ist jemanden etwas passiert. Die Angst war aber da. Mit jedem Besuch habe ich mich aber näher an die Glasfront getraut. Dieses Jahr sogar soweit, dass ich direkt vor dem Glas stand. Auf dem Foto erkennt ihr meine Fußspitzen, nur dreißig Zentimeter weiter geht es steil runter. Einmal kurz habe ich es sogar gewagt mich an die Scheibe zu lehnen, aber wirklich nur kurz. Die Scheibe könnte ja aus ihrer Fassung springen. Wieder so ein unsinniger Gedanke. Aber je mehr ich meine Angst überwinden konnte, desto mehr konnte ich den schönen Ausblick genießen. Während ich so da stand musste ich daran denken, dass Gott oft wie so eine Glasscheibe ist, die zwischen mir und dem Abgrund steht. Ich sehe ihn nicht und doch ist er da und lässt nicht zu, dass ich falle. In den Psalmen heißt es:
Denn du hast mich gerettet vom drohenden Tod, meine Füße vom Abgrund zurückgehalten. Ich darf in deiner Nähe weiterleben, weil du mich das Licht noch sehen lässt. Ps 56,14
Ich muss zugeben, manchmal vergesse ich, dass da ein Gott ist, der auf mich aufpasst. Ich erinnere mich nicht immer daran, dass dieser Gott nicht zulässt, dass ich im übertragenen Sinne in einem Abgrund falle, und wenn doch, dass er mir wieder raus hilft. Manchmal brauche ich Zeit, um das zu realisieren, so wie ich auch Zeit brauchte, um mich ganz an die Fensterscheibe zu trauen. Aber je mehr mir das bewusst wird, desto weniger bekommt die Angst vor dem, was passieren könnte Raum. Und desto mehr kann ich dankbar auf das Schöne schauen, das mich umgibt.
D. Behrens