Liebe Geschwister,

als Kind war ich mit meinen Eltern im Urlaub in Österreich oft wandern. Was ich an den Wanderungen besonders geliebt habe, waren die Pausen an kleinen Bächen. Über die Jahre sind mein Bruder und ich zu wahren Fachmännern im Bau von Staudämmen geworden. Steine und Äste wurden geschickt zusammengefügt, bis ein Damm den Bach aufstaute und ein kleiner See entstand. Wir hätten Stunden damit verbringen können in der Natur am Wasser zu spielen. Unsere Eltern hatten aber andere Ziele, einen Berg oder eine Almhütte. Also ging es irgendwann weiter. Manchmal ließen wir unser Bauwerk stehen, in der Hoffnung, dass wenn wir irgendwann einmal wieder vorbeikommen, weiterarbeiten zu können. Mitunter haben wir aber auch unseren Damm geöffnet, um das aufgestaute Wasser abzulassen. Das war beeindruckend, welche Kraft auch eine relativ kleine Menge Wasser haben kann und wie eine kleine Öffnung im Damm immer größer wurde. Diese Erinnerungen gingen mir in der vergangenen Woche durch den Kopf, als ich die Nachrichten im Fernsehen sah und an einen Bibelvers denken musste:  

„Einen Streit anzufangen gleicht dem Öffnen eines Dammes; deshalb lass eine Sache lieber auf sich beruhen, bevor es zum Streit darüber kommt.“ Buch der Sprüche 17,14

Es geht um das Ende unserer Regierungskoalition. „Endlich“, möchte ich fast sagen. In den letzten Wochen hat man gemerkt, dass diese Regierung immer weniger zueinanderfindet. Und wir haben durch die Medien bestimmt nur einen Teil mitbekommen. Als diese Regierung gestartet ist, nannte man sich noch optimistisch Fortschrittskoalition. Aber aus Fortschritt wurde Stillstand und aus Stillstand wurde Rückschritt. Um im Bild des Bibelverses zu bleiben:  Irgendwann muss es zu einem Loch im Damm gekommen sein, dass immer größer wurde. Aus Unstimmigkeiten wurde eine Krise, die Auswirkung auf Millionen von Menschen hat. Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen. Dafür weiß ich zu wenig darüber wie die Gespräche gelaufen sind und wer was gesagt hat. Aber ich sehe vor den Kameras Politiker, die auch innerlich bewegt sind, weil sie sich vieles anders vorgestellt haben. Politiker sind auch nur Menschen, das wird heute leider oft vergessen.

Ich verlasse mal die Bühne der Politik und denke an mein Leben, an meine Beziehungen und an die Menschen, mit denen ich in Verbindung stehe. Da gibt es auch immer wieder Unstimmigkeiten, unterschiedliche Sichtweisen und andere Meinungen. Vieles lässt sich natürlich ganz unkompliziert klären. Aber manchmal gibt es auch Situationen, bei denen man sich fragt, ob man sie wirklich ansprechen soll. Wie reagiert die Person? Kann man das Anliegen klären? Findet man zueinander? Oder entwickelt es sich zu einem Streit, wie eine Flutwelle bei einem Damm, der geöffnet wird? Der Vers fordert nicht auf alles stillschweigend zu hinzunehmen. Manche Dinge darf und muss man ansprechen. Aber wenn aus einem sachlichen Gespräch über eine Angelegenheit ein Streit wird, ist es besser die Sache (erst mal) auf sich beruhen zu lassen. Das ist nicht leicht, aber leichter als eine zerbrochene Beziehung wieder zuheilen.

Meine Erfahrung ist, wenn Menschen miteinander streiten liegt das ganz oft auch daran, dass sich etwas angestaut hat. Selten geht es nur um eine Sache, sondern im Hintergrund schwingt noch ganz viel anderes mit. Es gibt einen Auslöser, der dann zum Dammbruch führt. Und dann kommt es zu einer Flutwelle von Emotionen und ungeklärten Dingen, die sich lange aufgestaut haben. Wie kann man dem vorbeugen? Paulus ermutigt die Menschen in der Gemeinde in Ephesus mit folgenden Worten: „Seid vielmehr freundlich und barmherzig und vergebt einander, so wie Gott euch durch Jesus Christus vergeben hat.“ (Eph 4,32). Ich bin überzeugt, dass je mehr ich meinen Mitmenschen mit dieser Haltung begegne, desto weniger wird sich in mir aufstauen, was irgendwann einmal zu einem Streit führen kann.

D. Behrens