Liebe Geschwister,

es ist kurz nach sieben Uhr. In wenigen Minuten müssen meine Kinder zur Bushaltestelle aufbrechen. Meine Tochter steht noch vor dem Spiegel und betrachtet sich. Je älter sie wird, desto länger dauert die Zeit vor dem Spiegel. Nachdem sie sich eine Weile betrachtet hat, sagt sie: „Ich mag meine Augen am liebsten an mir.“ Etwas abseits steht mein Sohn. Der kleine Bruder hat seine Schwester vor dem Spiegel nur beiläufig beachtet. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt weiß, was Spiegel sind. Manchmal läuft er noch stundenlang mit Tomatensoßenflecken im Gesicht herum, nachdem er zu Mittag gegessen hat.

Als seine große Schwester jedoch von ihren Augen spricht, blickt auch er in den Spiegel. Es dauert nur einen kurzen Moment, dann sagt er: „Ich mag alles an dir, nicht nur deine Augen.“ Als Vater hört man so etwas natürlich gerne – und ich glaube ihm, was er sagt. Unser Sohn mag seine große Schwester wirklich sehr und sagt das auch oft. Unsere Tochter ist da etwas zurückhaltender. Aber wenn unser Sohn mal länger krank ist oder nicht pünktlich von einer Verabredung nach Hause kommt, macht sie sich Sorgen.
Da merke ich, dass sie ihren kleinen Bruder auch sehr gern hat.

Wenige Stunden später, am Nachmittag: Ich höre laute Stimmen von oben. Es geht hin und her, und dann knallen die Türen – mal wieder Streit unter Geschwistern. Und das aus für mich als Erwachsenen nicht nachvollziehbaren Gründen. Meine Kinder sehen das natürlich anders. Doch es dauert nicht lange, da spielen sie wieder gemeinsam in einem Zimmer oder im Sandkasten. Ich finde es immer wieder interessant, wie nah Streit und Zuneigung beieinanderliegen können.

Irgendwie sind mir meine Kinder dabei auch ein Vorbild, nicht in der Art, wie sie streiten (Türenzuknallen ist nicht mein Stil), sondern in dem, was danach kommt: Dass die Zuneigung und Liebe am Ende doch überwiegen und sie wieder zueinanderfinden (meistens mit etwas Unterstützung der Eltern). Ich finde, wir Erwachsenen können davon lernen. Ich erlebe es immer wieder, dass Erwachsene nicht mehr zueinanderfinden. Manchmal reichen ein paar unbedachte Worte, und jemand zieht sich zurück, anstatt das Gespräch zu suchen. Da macht einer etwas, was den anderen ärgert – und anstatt es zu klären, wird sich zurückgezogen.

Ich weiß, dass Worte und Taten verletzen können, und dass es mitunter schwer ist, Konflikte oder angespannte Situationen zu klären. Aber sollten nicht Liebe und Zuneigung zu einem Menschen das Negative überwiegen, sodass man die Klärung sucht? Paulus schrieb im Römerbrief (15,7) den schönen Satz: „Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat. Auf diese Weise wird Gott geehrt.“ Jesus hat es doch genauso gemacht. Er hat uns angenommen – mit unseren Fehlern, unserer Schuld und unserem Scheitern. Er ist auf uns Menschen zugegangen, hat sich nicht zurückgezogen, damit wir Gottes Liebe erfahren und aus dieser Liebe heraus einander begegnen können.

D. Behrens