iebe Geschwister,
die Bilder der letzten Tage aus Syrien haben mich sehr bewegt. Auch wenn es nicht danach aussah, wurde nach vierzehn Jahren Bürgerkrieg die Diktatur von Baschar al-Assad beendet. In den Nachrichten sieht man zwischen zerstörten Häusern Menschen jubeln und feiern.
In Interviews mit Korrespondenten vor Ort oder mit Nah-Ost-Experten stellt sich aber immer wieder die Frage: Wie geht es weiter? Bekommt das Land jetzt eine stabile Regierung? Wird das Land wiederaufgebaut? Kehren die vielen Menschen zurück, die in den letzten Jahren geflohen sind? Abu Muhammad al-Dschaulani, der Anführer der Gruppe, der es am Ende gelungen ist Assad zu stürzen, möchte bei dem Neubeginn mit allen Gruppen zusammenarbeiten und Minderheiten sollen geschützt werden. Das klingt erst mal gut und ich würde es dem Land und den Menschen wünschen. Ich bin aber skeptisch. Die Gruppen, die in Syrien gekämpft haben, sind von ihrer Ausrichtung doch sehr unterschiedlich. Außerdem haben der Bürgerkrieg und die Diktatur Assads mit Folter und Morden das Land geprägt. Menschen mussten Schweres erleiden, den Tod von Angehörigen erleben, da fällt es schwer, einfach nur nach vorne zu schauen und alles was war zu vergessen. Ich kann mir gut vorstellen, dass so Mancher noch eine Rechnung offen hat und Rachegedanken hegt.
Der Weg der Vergebung, der zu einem Neuanfang führt und auf dem Böses nicht gleich wieder mit Bösem vergolten wird ist kein leichter Weg. Ich muss daran denken, wie lang Gott schon versucht, uns Menschen auf diesen Weg zu bringen. Am Anfang der Bibel ist von einem Mann mit Namen Lamech die Rede (1Mo 4,23). Lamech prahlt damit, dass er einen jungen Mann getötet hat, nur weil dieser ihm eine Beule zugeführt hat. Kaum vorstellbar, aber das steckt in uns Menschen drin. Morde aufgrund von solchen Kleinigkeiten sind zwar selten, aber jemanden etwas heimzuzahlen und noch was draufzupacken, das können wir Menschen. Da war dann das alttestamentliche Auge und Auge, Zahn um Zahn schon ein echter Fortschritt. Rache durfte nicht mehr grenzenlos sein. Vergeltung sollte in einem Verhältnis zur begangenen Tat stehen.
Jesus geht aber noch weiter. Er ruft dazu auf, grundsätzlich auf Vergeltung zu verzichten. Vergibt deinem Schuldiger. Liebe den Menschen, der dich nicht liebt. Verzichte auf Rache. Aber wie soll das funktionieren? Wie kann Böses überwunden werden? In seinem Buch Nachfolge schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Die Überwindung des Anderen erfolgt nun dadurch, dass sein Böses sich totlaufen muss, dass es nicht findet, was es sucht, nämlich Widerstand und damit neues Böses, an dem es sich umso mehr entzünden könnte. Das Böse wird darin ohnmächtig, dass es keinen Gegenstand, keinen Widerstand findet, sondern willig getragen und erlitten wird. Hier stößt das Böse auf einen Gegner, dem es nicht gewachsen ist.“ Ich gebe zu, das ist nicht leicht. Bösen zu tragen, zu ertragen. Und vielleicht funktioniert es auch nicht immer in dieser Welt. Aber Jesus hatte es so vorgemacht. Er selbst hat gegen das Böse, das ihm widerfahren ist, nicht mit Gewalt angekämpft. Er hat es willig getragen und erlitten. Dadurch haben wir aber gesehen, wie unverbrüchlich Gottes Liebe zu uns Menschen ist. Wo wir Böses tun, liebt er immer noch. Ich denke noch mal an Syrien. Auch wenn es ein mehrheitlich muslimisches Land ist hoffe und bete ich für dieses Land, dass die Menschen im Geiste von Jesus handeln und einen Neuanfang ohne Vergeltung schaffen. Ich denke aber auch an mich, dass ich nicht der Versuchung erliege etwas heimzuzahlen, wenn mir etwas angetan wird.
D. Behrens