Liebe Geschwister,

ich hätte es nicht gedacht, aber er steht noch und konnte sogar seinen zehnten Geburtstag feiern. Natürlich nicht in Jahren, sondern in Tagen. Ich rede von unserem Schneemann. Es ist ein bisschen schmutzig. Sein Kopf hat am meisten gelitten, die meisten Zähne sind ihm ausgefallen und liegen verteilt um ihn herum. Das schein ihn aber nicht zu stören. Es scheint fast so, als würde er mir seine dünnen Arme entgegenstrecken, weil er sich freut, mich zu sehen. Wie sagt man so schön: Totgesagte leben länger. Bestimmt kennst du auch das Sprichwort: Totgesagte leben länger. Manchmal wird es auf Personen angewendet, wenn zum Beispiel ein Schauspieler von der Bildfläche verschwunden ist und dann ein plötzliches Comeback erlebt. Oder bei Gegenständen. Wenn ein Auto trotz hohen Alters und hoher Laufleistung wieder erwarten durch die Hauptuntersuchung kommt. Das Sprichwort kommt immer dann zum Einsatz, wenn wir Menschen irgendwo keine Zukunft mehr sehen, dann aber positiv überrascht werden. Jesus erzählt im Lukasevangelium ein Gleichnis, das man auch mit „Totgesagte leben länger“ hätte überschreiben können:

»Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum gepflanzt. Er kam und suchte Früchte an ihm und fand keine.  Da sagte er zu seinem Weingärtner: ›Hör zu: Drei Jahre sind es nun schon, dass ich herkomme und an diesem Feigenbaum nach Früchten suche und keine finde. Also hau ihn um, was soll er für nichts und wieder nichts den Boden aussaugen!‹ Aber der Weingärtner sagte: ›Herr, lass ihn doch dieses Jahr noch stehen! Ich will den Boden rundherum gut auflockern und düngen. Vielleicht trägt der Baum dann im nächsten Jahr Früchte. Wenn nicht, dann lass ihn umhauen!‹« Lk 13,6-9

Hobbygärtner und Baumliebhaber sind bestimmt erst mal erschrocken. Für den Weinbergbesitzer geht es aber ganz nüchtern um den Ertrag aus seinem Weinberg. Und wenn der Feigenbaum nur Wasser und Nährstoffe aus dem Boden saugt, ohne einen Ertrag zu bringen, dann ist das Todesurteil für den Baum mehr als nachvollziehbar. Schon lange bevor Jesus geboren wurde, wurde eine ähnliche Geschichte erzählt. Wahrscheinlich war sie zurzeit von Jesus auch noch gut bekannt. In der Geschichte geht es auch um einen Baum, gepflanzt an einem Bach. Auch dieser Baum trägt keine Früchte und soll abgehauen werden. Der Baum bittet um Gnade und dass er doch an einen anderen Ort umgesetzt wird. Wenn er dort auch keine Früchte trägt, dann darf man ihn fällen. Der Baumbesitzer lässt sich darauf aber nicht ein. Sein Argument: Wenn der Baum am Bach schon keine Früchte getragen hat, dann ist es noch unwahrscheinlicher, dass er abseits des Wassers sich gut entwickeln wird. Damit ist das Todesurteil für den Baum besiegelt. Sicher erkennt ihr den Unterschied: In der bekannten Geschichte gibt es keine zweite Chance. In der Version von Jesus schon. Der Baum bekommt seine Chance und der Gärtner verspricht sich gut um den Baum zu kümmern, den Boden aufzulockern und zu düngen. Wie es mit dem Baum weiterging, lässt Jesus offen. Ob die Pflege geholfen hat und der Baum sich prächtig entwickelte? Oder war es vergeblich und ein Jahr später wurde er dann doch abgeholzt? Vielleicht auch irgendetwas dazwischen, hin und wieder mal ein paar Früchte. Aber darum geht es nicht. Im Kern geht es in dieser Geschichte darum, dass es Gottes Barmherzigkeit größer ist, als wir denken. Da, wo etwas für tot erklärt wird, wo etwas so aussieht, als wäre es am Ende, da kann Gott noch eine Chance, eine Perspektive, eine Zukunft geben. Mir hilft dieses Gleichnis nicht an meinen starren Vorstellungen festzuhalten. Mitunter sieht es so aus, als wären Freundschaften, Ehen oder auch ganze Glaubensgemeinschaften am Ende. Aber das muss nicht sein. Mit etwas Zeit und göttlicher Pflege kann auch da etwas wieder neu erblühen, wo ich etwas für einen hoffnungslosen Fall halte. Ich komme noch mal auf den Schneemann zu sprechen. Momentan sieht es ja nicht so aus, aber vielleicht überlebt er die kommenden Tage auch noch, bis es wieder mal schneit.

D. Behrens